Am Sonntagmorgen steht plötzlich ein Sessel an der Bushaltestelle. Er scheint sorgfältig platziert. Bei aller Auffälligkeit wirkt der Sessel an diesem Platz zugleich ganz selbstverständlich; lässig steht er da, als wolle er ein Weilchen bleiben. Mich berührt die Fragilität des Arrangements, das erwartbar Vorübergehende daran. Also mache ich ein Foto.
Nachmittags sitzen drei türkische Frauen dicht aneinander gerückt auf der Bank neben dem Sessel.
Noch etwas später sehe ich einen Mann an der Haltestelle. Er sitzt im Sessel. Aber nicht irgendwie; er hat richtig Platz genommen. Mit genau der entspannten, zurückgelehnten Haltung, zu der der Sessel - ganz perfekter Gastgeber - unaufdringlich einlädt.
Nachmittags sitzen drei türkische Frauen dicht aneinander gerückt auf der Bank neben dem Sessel.
Noch etwas später sehe ich einen Mann an der Haltestelle. Er sitzt im Sessel. Aber nicht irgendwie; er hat richtig Platz genommen. Mit genau der entspannten, zurückgelehnten Haltung, zu der der Sessel - ganz perfekter Gastgeber - unaufdringlich einlädt.
Ich frage den Mann ob ich ihn fotografieren darf und setze mich anschließend neben ihm auf die Bank.
Er sei der erste, den ich im Sessel sitzen sehe, sage ich zu dem Mann und frage ihn, wie es wohl kommen mag, dass das neue Möbel nicht genutzt wird. Jaques überlegt einen Moment und ruckelt sich neu zurecht im Sessel: „Ja, also ich will den Bus ja gar nicht nehmen, da hatte ich das Gefühl, ich hab auch keine Berechtigung an der Haltestelle zu sitzen.“ Die Antwort verblüfft mich. Ich sehe Jaques an, ich sehe seinen Rücksack, die eingerollte Jacke - wie fragt man einen Menschen, ob er auf der Strasse lebt? Gar nicht, erst Mal. Ich kann nicht sicher sein, dass ich ihm mit der Frage kein schlechtes Gefühl verursache. Aber Jaques erzählt es selbst, noch immer der Frage nachgehend, warum der Sessel nicht genutzt wird. Mit einem schnellen Blick zur Seite, zu mir, sagt er: „Ich tippel so rum, ich leb auf der Strasse.“ Und dann: „Die Stadt, das sind die anderen. Ich erlebe die Stadt aus einer isolierten Position. Der Sessel gehört ja hier nicht hin, der ist ja eigentlich Sperrmüll.“
Er sei der erste, den ich im Sessel sitzen sehe, sage ich zu dem Mann und frage ihn, wie es wohl kommen mag, dass das neue Möbel nicht genutzt wird. Jaques überlegt einen Moment und ruckelt sich neu zurecht im Sessel: „Ja, also ich will den Bus ja gar nicht nehmen, da hatte ich das Gefühl, ich hab auch keine Berechtigung an der Haltestelle zu sitzen.“ Die Antwort verblüfft mich. Ich sehe Jaques an, ich sehe seinen Rücksack, die eingerollte Jacke - wie fragt man einen Menschen, ob er auf der Strasse lebt? Gar nicht, erst Mal. Ich kann nicht sicher sein, dass ich ihm mit der Frage kein schlechtes Gefühl verursache. Aber Jaques erzählt es selbst, noch immer der Frage nachgehend, warum der Sessel nicht genutzt wird. Mit einem schnellen Blick zur Seite, zu mir, sagt er: „Ich tippel so rum, ich leb auf der Strasse.“ Und dann: „Die Stadt, das sind die anderen. Ich erlebe die Stadt aus einer isolierten Position. Der Sessel gehört ja hier nicht hin, der ist ja eigentlich Sperrmüll.“
Mit 17 hat Jaques sich von der Schule abgemeldet, wie er es nennt. Er hat es dort nicht ausgehalten. Von seiner Familie hat er sich zurückgezogen.
Irgendwie lebt er seitdem auf der Strasse. Mit 22 ist er nach Amsterdam gefahren: „Fünf Jahre war ich dann dort. Dabei wollte ich nur ein Wochenende bleiben.“
Ich erlebe Jaques als scheu und wach und nachdenklich. Er lässt sich Zeit beim sprechen, er wählt die Worte wohl, mit dem Blick scheint er Worte und Gedanken in der Luft zu suchen, er nimmt sie genau, er wägt sie ab, er betont alles sehr bewusst, seine Finger und Hände helfen beim Sprechen. Fast ein bisschen lyrisch ist das alles, nur ohne Verse. Jaques hat viel Zeit und er beobachtet genau; er selbst wird meist übersehen. „Einer wie ich spielt in dieser Gesellschaft keine Rolle“, das sagt er und es klingt nicht bitter. Jaques fühlt sich außerstande ein normales Leben zu führen, arbeiten zu gehen, all das. Als roboterhaft empfindet er die meisten Menschen. „Ich führe das Leben eines Philosophen“, sagt Jaques und dass er 'mehr so ein Bursche' sei. Ich frage, was er mit Bursche meint: „So einer ... mit einerseits Pelz ... und süßen Seiten.“ Ich verstehe nicht genau was er damit meint, aber ich verstehe immer so vieles nicht, und nehme es dennoch in mich auf. Vielleicht verstehe ich es ja irgendwann.
„Ich bin schon traurig“, sagt Jaques, „Ich meine, es ist ja einiges schief gelaufen in meinem Leben.“ Dennoch lebt er gerne auf der Strasse, so ausserhalb von allem. Freunde hat er keine, aber es gibt etwas, das ihm vertraut ist – vielleicht die Gegend in der er sich meist aufhält. „Ich fühle mich wie in einem Netz; also kein Spinnennetz, das wäre ja Angst. Es ist ein gutes Netz.“ Jaques liest viel, er interessiert sich für Gandhi, Philosophie und die Wahrheit, seine eigene Wahrheit in seinem eigenen Tempo. Diese Auseinandersetzung mit sich, mit den Gedanken anderer, das gibt ihm Halt.
Irgendwie lebt er seitdem auf der Strasse. Mit 22 ist er nach Amsterdam gefahren: „Fünf Jahre war ich dann dort. Dabei wollte ich nur ein Wochenende bleiben.“
Ich erlebe Jaques als scheu und wach und nachdenklich. Er lässt sich Zeit beim sprechen, er wählt die Worte wohl, mit dem Blick scheint er Worte und Gedanken in der Luft zu suchen, er nimmt sie genau, er wägt sie ab, er betont alles sehr bewusst, seine Finger und Hände helfen beim Sprechen. Fast ein bisschen lyrisch ist das alles, nur ohne Verse. Jaques hat viel Zeit und er beobachtet genau; er selbst wird meist übersehen. „Einer wie ich spielt in dieser Gesellschaft keine Rolle“, das sagt er und es klingt nicht bitter. Jaques fühlt sich außerstande ein normales Leben zu führen, arbeiten zu gehen, all das. Als roboterhaft empfindet er die meisten Menschen. „Ich führe das Leben eines Philosophen“, sagt Jaques und dass er 'mehr so ein Bursche' sei. Ich frage, was er mit Bursche meint: „So einer ... mit einerseits Pelz ... und süßen Seiten.“ Ich verstehe nicht genau was er damit meint, aber ich verstehe immer so vieles nicht, und nehme es dennoch in mich auf. Vielleicht verstehe ich es ja irgendwann.
„Ich bin schon traurig“, sagt Jaques, „Ich meine, es ist ja einiges schief gelaufen in meinem Leben.“ Dennoch lebt er gerne auf der Strasse, so ausserhalb von allem. Freunde hat er keine, aber es gibt etwas, das ihm vertraut ist – vielleicht die Gegend in der er sich meist aufhält. „Ich fühle mich wie in einem Netz; also kein Spinnennetz, das wäre ja Angst. Es ist ein gutes Netz.“ Jaques liest viel, er interessiert sich für Gandhi, Philosophie und die Wahrheit, seine eigene Wahrheit in seinem eigenen Tempo. Diese Auseinandersetzung mit sich, mit den Gedanken anderer, das gibt ihm Halt.
Eine Stunde lang sitze ich mit Jaques an der Haltestelle. Fünf oder sechs Busse halten an. Menschen steigen ein und aus. Einmal klopft ein Junge von innen an die Scheibe und macht das Daumen-hoch-Zeichen. Er lacht freundlich und scheint sich über Jaques im Sessel zu freuen. Wir haben ganz schön viel geredet, Jaques und ich, und er hat mir ein paar sehr persönliche Dinge erzählt. Kurz bevor unsere Begegnung zu Ende geht sage ich Jaques, dass ich vieles davon nicht schreiben werde, weil mein Gefühl ist, dass er es mir erzählt hat; im Vertrauen, off the record, wie man so sagt. „Ja“, stimmt er mir zu: „Ich glaub, das liegt am Sessel.“ Er lässt seine Hand schwer auf die Rückenlehne fallen und guckt den Sessel an, wie beim Abschied von einem guten Kumpel.
Sonntagmorgen mit Sessel
Später am Abend sehe ich, dass der Sessel weg ist. Die Bushaltestelle liegt da wie immer, als wäre nichts gewesen.